Psychosoziale Gesundheit II

Im Jahr 2013 wurde sie eingeführt und die Unternehmen dazu verpflichtet sie umzusetzen: die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung am Arbeitslatz. Wie ist die Bilanz nach 12 Jahren? Im Ranking für die Bundesliga würde man sie im unteren Mittelfeld ansiedeln, mit sehr guten Chancen zum Aufstieg. Das bedeutet für alle Beteiligten dranzubleiben. Wir, Ihre Berufsgenossenschaft, tun das: mit dem Programm psyBel, das wir für die Präventionsarbeit kostenlos bereitstellen. Bei der Entwicklung wurden Erfahrungen aus der betrieblichen Praxis und neuere wissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen, um Instrumente anzubieten, die sich für alle Unternehmensformen eignen und vor allem effizient in punkto Aufwand sind. Die Bedeutung der Gefährdungsbeurteilung als eines der wichtigsten Präventionsinstrumente im BGM kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Psychische Erkrankungen und Belastungen steigen von Jahr zu Jahr an, davon zeugen die Daten im jährlich vorgestellten Psychreport der DAK. Der BGM-Experte Professor Volker Nürnberg hat die Daten analysiert, und er sieht dringenden Handlungsbedarf in der Präventionsarbeit der Unternehmen.
Ursachen erkennen und infolgedessen passende Maßnahmen und Strategien zu entwickeln, das gilt vor allem in der Burnout-Prävention. Immer mehr Menschen fühlen sich überlastet und stufen ihr Burnout-Risiko als sehr hoch ein. Auch wenn die Ursachen und Symptome komplex sind, so werden sie nach neuesten Erkenntnissen häufig im Arbeitskontext angesiedelt. Diese Entwicklung zu stoppen muss nicht nur im Interesse, sondern auch in der Verantwortung eines Unternehmens liegen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Burnout-Prävention im Unternehmen ist es, mögliche Ursachen und Symptome zu erkennen und auch dafür, man kann es nicht oft genug betonen, ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung das optimale Instrument.

Professor Volker Nürnberg zum DAK Psychreport 2024

Basis für den Psychreport der DAK sind die anonymisierten Daten von rund 2,5 Millionen erwerbstätigen Versicherten. Diese Langzeitanalyse erscheint jährlich und die aktuelle Bilanz ist besorgniserregend.

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Basis für den Psychreport der DAK sind die anonymisierten Daten von rund 2,5 Millionen erwerbstätigen Versicherten. Diese Langzeitanalyse erscheint jährlich und die aktuelle Bilanz ist besorgniserregend.

Prof. Volker Nürnberg, Partner BearingPoint
Wenn wir uns die psychischen Erkrankungen anhand der Daten der DAK anschauen, dass wir 2023 einen Anstieg von 10% gut hatten gegenüber dem Vorjahr. Und wenn wir die letzten zehn Jahre anschauen, insgesamt 50% mehr psychische Erkrankungen. Es explodiert also förmlich und die Pandemie hat das Ganze noch mal beschleunigt. Das heißt, diese Changeprozesse, die schnellen Innovationen, die Digitalisierung, damit kommen nicht alle Mitarbeiter mit. Und es ist abzusehen, zurzeit sind die psychischen Erkrankungen insgesamt noch auf Platz drei, aber in wenigen Jahren werden sie Platz eins sein.
Die nackten Zahlen der Krankschreibungen sagen jetzt erst mal nicht so viel über die Ursachen. Das ist ja das Problem. Meistens sind die Ursachen ein Mix aus privaten und beruflichen Gründen und das muss man auch für jeden Einzelfall betrachten.

Bei der im Report dargelegten Auflistung nach Diagnosen fällt die Häufigkeit von Depressionen, Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen auf. Der BGM-Experte Professor Volker Nürnberg verfolgt diese Entwicklung bereits seit einigen Jahren und er sieht dringenden Handlungsbedarf.

Prof. Volker Nürnberg, Partner BearingPoint
Wir müssen an die Verhältnisprävention ran, wir müssen die Arbeitsorganisation besser organisieren und wir müssen auch letztendlich die Führungskräfte sensibilisieren für diese Thematik, weil sie sind nicht ganz unschuldig an der Entwicklung. Obwohl oftmals auch noch private Faktoren mit reinspielen, wenn es zu einer psychischen Erkrankung kommt.
Aber wir haben im Unternehmen sehr, sehr viele psychisch Erkrankte, um nur eine Zahl zu nennen: Nur jeder Achte, der wegen einer Depression in Behandlung ist, ist auch krankgeschrieben. 7 von 8 sind arbeiten, während sie parallel in Behandlung sind, das heißt, wir müssen die Unternehmen mit diesem Thema konfrontieren und es entstigmatisieren.

Auch wenn in punkto Entstigmatisierung ein Wandel stattgefunden hat und auch aufgrund des Engagements von Organisationen und Verbänden offener mit dem Thema psychische Erkrankungen umgegangen wird, muss deutlich mehr in der Prävention getan werden und es müssen auch neue Formen von Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.

Prof. Volker Nürnberg, Partner BearingPoint
Es gibt inzwischen Studien von der Charité zum Beispiel, dass ein Online Coaching bei leichten und mittleren Depressionen genauso erfolgreich ist wie ein reales Coaching. Also bei ganz schweren Fällen macht es immer noch Sinn, dass man zum niedergelassenen Psychologen oder Psychiater geht. Aber normale Fälle, sage ich mal, können inzwischen auch digital abgewickelt werden. Und wir sehen eben, dass wir mit digitalen Angeboten andere Zielgruppen erreichen, die sonst gar nicht zum Niedergelassenen gehen würden.
Im Bereich psychischer Erkrankungen werden digitale Angebote immer wichtiger, weil sie niedrigschwellig sind, weil sie anonym sind. Und insbesondere die Männer tun sich ja besonders schwer, sich psychischen Themen zu öffnen. Männer sind aber digital sehr affin, so dass das eine gute Zugangsmöglichkeit sein könnte, um auch das gesundheitsferne Geschlecht zu erreichen. Und ansonsten müssen die Unternehmen ihre Arbeitsbedingungen so ausrichten, dass Arbeit und Privatleben vereinbarer wird.

Entscheidende Bedeutung hat hierbei das Betriebliche Gesundheitsmanagement, und ein zentrales Präventionsinstrument ist dabei die „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung am Arbeitsplatz.“ Seit 2013 ist deren Einsatz für alle Unternehmen Pflicht, doch die praktische Umsetzung ist noch immer unzureichend.

Prof. Volker Nürnberg, Partner BearingPoint
Wenn wir uns die Praxis der psychischen Gefährdungsbeurteilung anschauen, dann sind das insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die das noch gar nicht oder wenig machen. Es soll ja auch regelmäßig gemacht werden, das lässt natürlich Interpretationsspielraum. Was ist regelmäßig? Der eine macht das alle zwei Jahre, der andere alle fünf Jahre und es wird de facto ja kaum kontrolliert von den einzelnen Behörden, ob die Unternehmen das gemacht haben, obwohl für das Unternehmen letztendlich sogar ein Haftungsrisiko da ist, wenn sie das nicht gemacht haben.
Hier würde ich mir eine Konkretisierung des vorhandenen Gesetzes wünschen. Ich glaube, weitere Gesetze brauchen wir nicht. Aber dass das vorhandene Gesetz konkretisiert und dann auch so von allen Unternehmen gelebt wird, das wäre sehr wünschenswert.

Bei Fragen nach dem WARUM fällt häufig der Satz: „machen wir später, momentan haben wir andere Prioritäten“, doch bei weiteren Nachfragen fällt auf, dass in vielen, besonders in klein- und mittelständischen Unternehmen immer noch Unklarheit und Unsicherheit über das WIE vorherrschen, und das trotz zahlreicher Informationen und Handlungsanleitungen in Fachmedien und im Internet. Um ihre Mitgliedsunternehmen zu unterstützen, hat die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und Chemische Industrie ein Programm aufgelegt, mit dem praxisnah und vor allem auch mit überschaubarem Einsatz von Ressourcen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung am Arbeitsplatz erarbeitet werden kann. PsyBel – in „Fit für Job und Leben“ stellen wir es ausführlich vor.