Psychosoziale Gesundheit

„Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit“, dieser Leitsatz ist allseitig anerkannt und eine wichtige Handlungsgrundlage im Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Ein Beleg dafür ist die Einführung der Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung vor mittlerweile 8 Jahren.
Und dennoch: soziodemografische Daten verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg von Erkrankungen und damit auch Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Belastungen. Über die Ursachen gibt es eine Vielzahl von Analysen und Reports, und das Problembewusstsein ist gewachsen, – doch die Komplexität des Problems macht Lösungsansätze zu einer besonderen Herausforderung.
Unumstritten ist jedoch: der Schlüssel für Veränderung muss in der Prävention liegen.

Prof. Manfred Spitzer zur psychischen Gesundheit

Wenn Professor Manfred Spitzer über das Thema Psychische Gesundheit und das dazu gehörige Spektrum an Problemen spricht, dann kommt mehr als ein Experte zu Wort. Der ärztliche Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik Ulm studierte Medizin, Psychologie und Philosophie und seine Forschungsarbeit bildet eine Schnittstelle zwischen Neurobiologie, Psychiatrie und Psychologie. Eine Kombination, die einen weiten Blickwinkel ermöglicht und fordert. Dieser Blickwinkel kommt auch seinen zahlreichen Büchern und Vorträgen zu Gute, die pointiert, wissenschaftlich fundiert und trotzdem allgemeinverständlich geschrieben sind und von denen einige auf Bestsellerlisten stehen. Professor Manfred Spitzer, ein Insider mit einem weiten Blick zu unserem Thema „Offensive Psychische Gesundheit“.
© 2021

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Aufklärung und Prävention ist das Ziel der „Offensive Psychische Gesundheit“, denn noch immer werden psychische Erkrankungen tabuisiert. In Deutschland sind knapp 18 Millionen Menschen davon betroffen. Für Professor Manfred Spitzer, Direktor der Psychiatrischen Klinik Ulm sind Aufklärung und Enttabuisierung wichtige Anliegen.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer
„Es gibt immer mehr psychische Krankheit. Man kann sich fragen warum ist das so? Das erste ist, wir achten heute mehr drauf und es ist mehr im Bewusstsein der Menschen drin. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder, die gab es schon vor 170 Jahren. Da hat ein Kinderarzt, der Herr Hoffmann den „Struwelpeter“ geschrieben und darin hat den „Zappelphillip“ und den „Hans-Guck-in-die-Luft“, das ist der Aufmerksamkeitsgestörte mit Hyperaktivität und der ohne. Da hat er die beiden Subtypen von AHDS schon beschrieben, vor 170 Jahren.
Früher gab es keine depressiven Männer, die haben gesoffen und sich irgendwann erhängt oder erschossen, aber depressiv waren die nicht. Heute wissen wir, die gibt es genauso wie es depressive Frauen gibt und die dürfen das halt sein. Depression ist eine der häufigsten Krankheiten, die es überhaupt weltweit gibt. Gehört zu den 10 häufigsten. Sucht ist eine andere von den 10 häufigsten. Wenn man sich das klar macht, dann haben wir in der Psychiatrie heute genauso Männer wie Frauen und die sind auch depressiv und die werden auch behandelt und so gehen wir heute wirklich anders damit um. Aber, das zeigen auch die Beispiele, keineswegs in allen Bereichen und keineswegs so wie es sein könnte. Es ist immer noch so, dass seelischer Krankheit ein Stigma anhaftet, nach dem Motto: mit dem stimmt was nicht, der ist doch so eigenartig.
Wir haben ganz witzige Auswüchse: einen Herzinfarkt darf man haben, Depressionen nicht? So denken ja viele und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir davon wegkommen und ganz klar sagen: wir wollen Krankheiten vermeiden im körperlichen und im seelischen Bereich und es sind beides Krankheiten. Man kann sie auch beide behandeln. Gott sei Dank. Und deswegen ist es nicht sinnvoll, bestimmte Krankheiten mit Stigma zu behandeln und andere nicht.
Und ich glaube auch, dass sich das weiterhin ändern wird. Nämlich in dem Maße, wie wir die Krankheiten besser verstehen und besser behandeln werden können, in dem Maße wird auch das Stigma abnehmen und dann wird es genauso normal sein, mit einer Depression in eine psychiatrische Klinik zu gehen und wie es normal ist, mit einem Herzinfarkt in die internistische Klinik zu gehen.“

Auch wenn mittlerweile einige psychische Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, weniger stigmatisiert sind, unter anderem, weil prominente Menschen mit ihrer Erkrankung offen umgehen, so gibt es noch genügend Vorurteile und das Thema Psychiatrie ist nach wie vor für viele Menschen angstbesetzt.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer
„Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass der Mörder immer in die Psychiatrie kommt? Jedes Mal wenn ich das höre, ärgere ich mich, weil, der Mörder kommt nicht in die Psychiatrie, der kommt in eine ganz bestimmte Abteilung für psychisch Kranke, die auch noch Mörder sind und die sind nicht in der normalen Psychiatrie. Aber in den Köpfen der Allgemeinbevölkerung ist Mörder und Psychiatrie eng miteinander verknüpft, deshalb: mit Psychiatrie will ich nix zu tun haben.
Es gibt tatsächlich das Stigma Problem im Bereich der Psychiatrie, das ist inzwischen gut erforscht und wird auch immer weiter erforscht. Und das ist ein Problem für die Psychiater und auch für die psychisch kranken Menschen. Ich selber glaube, dass man das nicht dadurch bekämpft, dass man jetzt nochmal immer mehr über Stigma redet, sondern dass man über psychische Krankheit spricht und über die Psychiatrie spricht. Es einfach besser macht und noch mehr Menschen klar macht, dass psychische Störungen zu uns Menschen gehören, wie alle anderen Krankheiten auch, weil wir eben nun mal, ja auch krank werden können. So wie der rauchende Dicke, der kriegt ja auch seinen Herzinfarkt nicht von außen, sondern der macht ihn sich selber. Und jemand der sich permanent zu viel Angst macht oder sich dauernd in Situationen begibt, wo er chronischen Stress hat und die nicht abstellt, weil er es nicht schafft, die abzustellen, der kriegt eben vielleicht ne Depression, so dass ich denke, wir brauchen mehr Wissen über das ganze Geschehen und wieder auch mehr Selbstreflexion, dann werden wir mit diesem Geschehen auch fertig, Und wir sind auf dem besten Weg dazu, aber es ist trotzdem noch ein Stück Arbeit, das kann ich ganz klar sagen.“

Akzeptanz und Verständnis sind das eine, doch es geht auch darum, Menschen mit psychischen Erkrankungen gut zu integrieren. Stichwort „Teilhabe“. Da die meisten Menschen einen Großteil ihrer Zeit am Arbeitsplatz verbringen, stellt sich besonders die Frage, wie Unternehmen darauf reagieren und agieren können.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer
„Ich glaube, es liegt hier wieder an einer guten Führungskraft, dass man eben nicht nur guckt, wer kann den Job machen, sondern auch überlegen, was kann dieser Mensch im Rahmen meines Betriebes leisten, wozu ist er in der Lage. Also man kann auch „fit the job to the person“ und nicht nur umgekehrt, man muss beides machen. Wenn jemand eine psychische Krankheit hat, die gehen oft wellenförmig, also es geht mal besser und es geht mal schlechter, dann wäre es schön es gibt ne gewisse Flexibilität. Das man eben sagt: ok: du kannst jetzt selber sagen, wieviel Prozent dir gemäß sind. Es gibt Modelle, die jetzt schon dafür sorgen, dass wenn jemand aus der Psychiatrie raus kommt, dass er dann nicht gleich 100% arbeitet, sondern gestuft wieder an den Arbeitsplatz heran gehen kann. Was er auch braucht, denn man ist nicht in der Psychiatrie gesund oder krank , da gibt es ganz viel dazwischen, wie nebenbei in der anderen Medizin auch, aber in der Psychiatrie ist das besonders deutlich. Und deswegen müssen wir dem auch gerecht werden und dem wird man gerecht mit flexiblen, dem Einzelnen, angepassten Lösungen. Deshalb glaube ich wieder, ne Bereitschaft, solche Lösung zu machen und auch zu ermöglichen, da braucht man den gesetzlichen Rahmen, aber dann sollte es darauf hinauslaufen, dass man für die Leute etwas findet und der Rahmen so viel wie möglich zulässt. Also Freiheit zulässt, statt (sozusagen) Strukturen aufbaut, die man dann immer durchbrechen muss, wenn man etwas Vernünftiges machen will. Da sind wir Deutschen gut drin und das sollten wir uns im Gesundheitsbereich verkneifen, weil, das wird dann nicht gut, und Falschheit ist in andren Bereichen halt immer nur falsch, im medizinischen Bereich ist Falschheit dann tödlich und das ist der Unterschied und da sollten wir uns um mehr Richtiges besonders bemühen.“

Hier sind die Unternehmen und im besonderen die Führungskräfte gefragt, denn wie sie agieren, das bestimmt im wesentlichen das emotionale Klima im Unternehmen und hat Einfluss auf die psychische Gesundheit. Besonders jetzt, während der Pandemie wird die Situation von vielen als Krise erlebt. Erwarten Menschen in Krisenzeiten besondere Führungsqualitäten, worauf kommt es an?

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer
„Menschen erwarten generell Führung und erwarten auch in Krisen Führung, aber Führung ist nicht: ich sag dir jetzt was du zu machen hast. Das ist ganz wichtig. Sondern Führung ist, was hast du für ein Problem, wie kann ich dir helfen, das Problem besser zu lösen. Das allerwichtigste ist, das man authentisch bleibt, nicht glaubt man müßte jetzt irgendwas spielen oder irgendwas vormachen, was man selber nicht ist. Man darf auch mal sagen, hey ich hab auch Angst mich anzustecken. Man muss authentisch sein, man darf es nicht, man muss es sein. Dann muss man alle mitnehmen und muss alle gut informieren. Wenn Leute gut informiert sind, selber wissen was sinnvoll ist und das dann auch machen können und wissen, dem da oben geht’s eigentlich auch so wie mir , der macht sein Bestes und ich mach auch mein Bestes, und so funktioniert Führung in der Krise und so funktioniert Führung auch so.
Man muss sich auch klar sein, rein psychologisch: mit der Brechstange geht gar nichts, aber so ein bisschen in die Richtung, immer so ein kleines bisschen, das ist das Einzige was überhaupt geht, das wissen wir. Weil wir Menschen nun mal, dadurch dass wir unsere Gene haben und mit uns rumschleppen zeitlebens und unsere Lebenserfahrung, die ja auch unsere ist und unser Gehirn bestimmt hat, die haben wir nun mal auch. Dagegen kommt man mit der Brechstange gar nicht an und mit irgendeinem Befehl auch nicht , sondern mit so, man sagt heute „to nudge“, so ein kleines bisschen in die Richtung schubsen. Das geht tatsächlich und wenn man das geschickt macht und den langen Atem hat, den muss man immer haben als Führungsperson, dann kann man den Menschen tatsächlich helfen und damit kann tatsächlich auch für den eigenen Laden das Beste rausholen.“

Resilienz – immer häufiger begegnet man diesem Wort, Übersetzt bedeutet es Widerstandskraft , eine Art psychisches Immunsystem gegenüber Krisen und schwierigen Situationen. Und wie bei dem bekannteren Immunsystem, ist auch Resilienz nicht nur bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt, es gibt auch eine Reihe von Mitteln und Methoden sie bewußt zu stärken.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer
„Wir wissen Gottseidank was uns ein bisschen unempfindlicher macht, zum Beispiel in die Natur rausgehen. Es ist bekannt, dass uns das Erleben von Natur, sowohl körperlich als auch seelisch, gesünder macht. Die Effekte sind nicht klein, die sind tatsächlich messbar und ziemlich groß und werden systematisch unterschätzt. Nach dem Motto: Natur tut uns richtig gut. Und wenn man weiß, das zum Beispiel die Kinder, deren Aktionsradius ist in den letzten dreißig Jahren auf zehn Prozent von dem was er mal war, geschrumpft. Die Kinder waren früher immer draußen und wenn man sie bestrafen wollte, sagte man „zwei Stunden Hausarrest“, heute sind sie immer drin und man kann sie bestrafen mit zwei Stunden rausgehen. Das ist leider heute so verrückt. Deswegen ganz wichtig: mehr rausgehen wird uns resilienter machen, das ist überhaupt keine Frage. Das bringt uns auch mehr Vitamin D, weil die Sonnenstrahlen das machen und vieles mehr. Aber es sind vor allem die psychologischen Effekte von Naturerleben, die uns Stress reduzieren. Wir gehen in den Wald und haben weniger Stresshormone im Blut, nachgewiesen. Auch wenn Sie nicht joggen, wenn Sie joggen ist es noch besser, aber Sie können sich auch hinlegen, auch da geht der Stress runter. Das sind alles Dinge, die man heute weiß. Neben Naturerleben ist es wichtig, dass wir uns körperlich genug bewegen und zwar einfach deswegen, weil wir heute wissen, wie wichtig das ist. Wir haben da nicht so ne Idee, sondern wir wissen das aus den größten Untersuchungen. Das dritte ist, wir müssen Miteinander besser umgehen, wir müssen miteinander reden und wir müssen auch wieder lernen miteinander zu reden…“

…“Miteinander Reden“, dieser Appell betrifft viele gesellschaftliche Bereiche. Die im Rahmen der „Offensive Psychische Gesundheit“ organisierten Dialogforen können Denkanstöße und Unterstützung bieten. Informationen dazu auf der Website der INQA. Ein Handlungsleitfaden für Führungskräfte zum Themenfeld „Psychische Gesundheitsförderung im Unternehmen“, herausgegeben von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, steht hier zum download bereit.

Ein Handlungsleitfaden für Führungskräfte zum Umgang mit psychisch beeinträchtigten Beschäftigten, herausgegeben von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, steht hier zum Download bereit: DGUV_Information-206-030.pdf