Psychosoziale Gesundheit

„Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit“, dieser Leitsatz ist allseitig anerkannt und eine wichtige Handlungsgrundlage im Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Ein Beleg dafür ist die Einführung der Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung vor mittlerweile 8 Jahren.
Und dennoch: soziodemografische Daten verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg von Erkrankungen und damit auch Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Belastungen. Über die Ursachen gibt es eine Vielzahl von Analysen und Reports, und das Problembewusstsein ist gewachsen, – doch die Komplexität des Problems macht Lösungsansätze zu einer besonderen Herausforderung.
Unumstritten ist jedoch: der Schlüssel für Veränderung muss in der Prävention liegen.

Prof. Bernhard Badura - Wege in eine neue Vertrauenskultur

„Gesundheit ist ein bio-psycho-soziales Potenzial, das seine Energie aus intrinsischer Motivation, sinnstiftenden Aufgaben und sozialer Verbundenheit speist.“ und „Wir müssen neu darüber nachdenken, wie geführt wird, auch wie Verantwortung verteilt werden kann, wie mehr Selbstorganisation stattfinden kann.“
Zwei Schlüsselsätze aus einem Vortrag des Soziologen und Gründers der ersten universitären Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Deutschland, Professor Bernhard Badura. Eine Bestandsanalyse der gegenwärtigen Situation und ein Appell notwendige Veränderungsprozesse zu intensivieren.
© 2022

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Wenn es um Gesundheit in der Arbeitswelt geht, sind die Bücher des Sozialwissenschaftlers Professor Bernhard Badura Standardwerke. Seine Thesen gründen auf jahrzehntelange Forschung und der Analyse wissenschaftlicher Fakten und statistischer Daten. Mit seiner Arbeit hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass Betriebliches Gesundheitsmanagement den Stellenwert bekommen hat, den es heute besitzt.
In einem Vortrag auf dem BGM Kongress im Oktober 2021 berührt er eine ganze Reihe wichtiger und aktueller Fragen, die weit über das Thema Gesundheitsmanagement hinausgehen. Einige Passagen aus dem Vortrag und einem Interview werden hier vorgestellt. Der gesamte Vortrag steht als Audiodatei zum Download auf dieser Seite zur Verfügung.

Prof. Dr. Bernhard Badura
Gesundheit, was ist das eigentlich? Wir alle kennen natürlich die berühmte WHO-Definition. Ich würde mal hier eine auch eine etwas geänderte Definition vorschlagen. Für mich ist Gesundheit ein Potenzial, das erschlossen, das aber auch zerstört werden kann. Und je mehr ich in der Lage bin, in einer Organisation das Gesundheitspotenzial meiner Beschäftigten zu erschließen, dann werde ich auch entsprechend als Gesamtorganisation Erfolg haben. Gesundheit ist ein bio- psycho-soziales Potenzial, das seine Energie aus intrinsischer Motivation, sinnstiftenden Aufgaben und sozialer Verbundenheit speist. Das wäre mein Vorschlag, wie man im Sinne eben Gesundheit als ein Potenzial, vor allem auch die psychische Gesundheit zu verstehen, weil eben das der zentrale Treibstoff einer Kopfarbeiter-Gesellschaft ist.

PSYCHISCHE GESUNDHEIT UND PSYCHISCHE FITNESS

Prof. Dr. Bernhard Badura
Wir wissen das inzwischen wir in Deutschland neben der Corona Pandemie auch unter einer speziellen Epidemie leiden und das ist die Epidemie der zunehmenden psychischen Erkrankungen. Psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit ist ein ganz zentraler Kostenfaktor, der in den letzten 10 Jahren sich stark verstärkt hat. Das zeigen übrigens alle Daten. Knapp ein Drittel der AOK-Beschäftigten sind innerhalb von einem Jahr bedingt durch psychische Erkrankung, entweder stationär oder in ambulanter Behandlung. Das ist eine große Zahl, die Zahl wird aber noch problematischer, wenn man sich mal dies anschaut: die Dunkelziffer hierbei ist enorm. Es ist zwar so, dass heutige Menschen es vielleicht leichter finden, den Arzt aufzusuchen wegen einer psychischen Erkrankung, aber es gibt eben auch viele Menschen die das nicht tun und Sie sehen hier an dieser Statistik, dass der Bereich der nicht behandelten psychischen Beeinträchtigungen, das sind ja nicht immer Krankheiten, sondern generell eben das Thema der psychischen Fitness. Das ist eigentlich das entscheidende Thema und Sie sehen, dass hier diese psychische Fitness doch in Deutschland zu einem erheblichen Grad eingeschränkt ist, sodass also der Hinweis auf den Krankenstände zwar wichtig ist, aber die Dunkelziffer ist hierbei sehr groß.

WEGE IN EINE KULTUR DES VERTRAUENS

Prof. Dr. Bernhard Badura
Als die Corona Pandemie die Unternehmen gezwungen hat, ihre Mitarbeiter nach Hause zu schicken, war eine Erleichterung zu spüren in Deutschland. Ja, man muss sich fragen warum dieses so spontan, so stark angenommen worden ist. Dieses Thema und meine Vermutung ist, dass das einfach damit zusammenhängt, dass die Präsenzkultur, wie wir sie gegenwärtig gepflegt haben, in Deutschland, eben zu einem Großteil eine Misstrauenskultur war und das insofern viele Menschen als Erleichterung empfunden haben, mal dem kontrollierenden Auge des, wie man so schön sagt, Vorgesetzten zu entgehen. Einfach deswegen, weil eben die Annahme, dass Menschen faul sind, wenn sie nicht kontrolliert werden, das ist ein völliger Unsinn, (dass mittlerweile) die meisten Menschen suchen sinnvolle Arbeit, sinnvolle Betätigung sind froh, wenn sie das in vertrauensvoller Zusammenarbeit tun können, aber sie sind nicht froh, wenn sie sich dabei ständig unnützer Weise kontrolliert und bewertet fühlen.
Dazu hat das Harvard Business Manager Magazin, das ist ja eine Zeitschrift, die nicht dafür bekannt ist, dass sie sonderlich Arbeitgeber-unfreundlich wäre, dazu haben zwei namhafte Autoren einen Artikel geschrieben, wo sie sagen: „Taylers Modell einer industriellen Bürokratie schuf ein Kastensystem mit Denkern und Machern, das bis heute besteht.“ Es ist wie gesagt, in einer Zeitschrift, die eigentlich sehr den Unternehmen nahesteht und aber noch mal deutlich macht, wo wir hier ansetzen müssen, wenn wir uns die Frage stellen, warum die psychischen Erkrankungen oder etwas breiter gefasst die psychischen Beeinträchtigungen in diesem Lande so stark zunehmen als eine wirklich ernsthafte Bedrohung unserer Leistungsfähigkeit als Wirtschaftsstandort. Und hier ein ganz klarer Punkt: Wir müssen neu darüber nachdenken, wie geführt wird, auch wie Verantwortung verteilt werden kann, wie mehr Selbstorganisation stattfinden kann.
Ich kann nur sagen aufgrund unserer zahlreichen Diagnosen, die wir in den letzten Jahren gemacht haben, über 100 in ganz verschiedenen Teilen der Wirtschaft, es kommt eins ganz klar heraus: wer seine Aufgaben als sinnvoll erlebt und deswegen intrinsisch motiviert arbeitet, wird jede Art von Kontrolle als überflüssig, ja sogar als kontraproduktiv empfinden, nämlich als Ausdruck einer Misstrauenskultur. Und ich denke, dass dieser Schwenk von der Misstrauenskultur zur Vertrauenskultur vielleicht der größte Dienst ist, den wir leisten können als betriebliche Gesundheits-Manager*innen, wenn wir gefragt werden, wo angesetzt werden sollte, im Sinne einer sinnvollen Verhältnisprävention.

Für die Umsetzung dieses zentralen Anliegens ist ein nachhaltiges und systematisches BGM unerlässlich. Standards wurden dafür unter anderem mit einem an der Universität Bielefeld entwickelten, evidenzbasierten Modell gesetzt. Dieses „Bielefelder Unternehmensmodell“ hat sich mittlerweile in zahlreichen Organisationen unterschiedlicher Branchen und Größenklassen bewährt.

DAS BIELEFELDER UNTERNEHMENSMODELL

Prof. Dr. Bernhard Badura
Also das Modell ist zunächst mal einer der Versuche einer kausalen Reihung der Einflussfaktoren, die im Betrieb auf die Gesundheit, auf die Kooperation und auch letztlich dann damit auf die Betriebsergebnisse einwirken. Wie ist das soziale System beschaffen? also der entscheidende Punkt ist das soziale System, nicht das technische System, die Qualität der sozialen Beziehungen horizontal und vertikal, die Qualität der Kooperation.

Dahinter steht ein ganzheitliches Konzept, das Arbeitsbedingungen, Unternehmenskultur und die sozialen Beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern verknüpft.

Prof. Dr. Bernhard Badura
Für uns ist nach wie vor die emotionale Bindung des einzelnen Mitarbeiters, der einzelnen Mitarbeiterin eigentlich die wichtigste Größe, wenn es darum geht, die Gesundheit zu stärken. Aber vor allen Dingen auch, wenn es darum geht den Energieeinsatz und den Arbeitswillen der Beschäftigten zu verbessern. Sie wirkt sich nachweislich aus, auf die Fehlzeiten, das können wir alles klar zeigen mit unseren Daten, auf das Qualitätsbewusstsein. Ein ganz wichtiger Punkt, denke ich, für jedes Unternehmen, für jede Organisation und auch auf den Energieeinsatz. Und wenn wir das mal so weit verstanden haben, dann stellt sich natürlich die große Frage: Wie kann man denn die emotionale Bindung stärken? Wovon hängt die wiederum ab? Und das ist auch wiederum eigentlich ganz banal. Das können Sie selber bei sich selber beobachten, mit welchen Gefühlen, Sie aus Gesprächen herauskommen, aus Meetings, oder wenn Sie zu Ihrer Führungskraft gebeten werden, mit welchem Gefühl betreten Sie dann den Raum und mit welchen Gefühlen verlassen Sie diesen Raum? Die Gefühle beim Menschen spielen immer eine Rolle. Wir können nicht nicht fühlen, könnte man auch sagen. Und der Mensch ist ein Bewertungswesen, was ständig emotional alles das bewertet, was einem widerfährt. Und natürlich auch dann die Arbeitswelt.

EMOTIONALE BINDUNG UND PSYCHISCHE GESUNDHEIT

Prof. Dr. Bernhard Badura
Man kann die emotionale Bindung an das Unternehmen dadurch verbessern, dass man die Führungskräfte schult, jetzt weniger zu bewerten und zu kontrollieren, sondern mehr zu unterstützen und zu beraten. Das ist der eine Ansatzpunkt. Der zweite Ansatzpunkt ist, dass man die soziale Kompetenz der Beschäftigten untereinander verbessert, dass sie also im Team besser gemeinsam funktionieren. Und der dritte Ansatz ist die Frage der Sinnhaftigkeit. Sinnhaftigkeit kommt in einem Unternehmen dadurch zustande, dass das Unternehmen seine Ziele glaubwürdig und überzeugend den Mitarbeitern vorstellt und begründet. Diese Begründung des Zweckes und der Ziele das ist ein wesentlicher Beitrag für das Sinnempfinden. Wenn ich in einem Unternehmen tätig bin, wo ich eigentlich gar nicht weiß, was eigentlich die Ziele sind, worauf es ankommt, dann habe ich auch irgendwie Schwierigkeiten meine Energie auf das zu konzentrieren, was vielleicht besonders wichtig ist, und andere Dinge liegen zu lassen, erstmal. Also dieses Mitdenken und Mitfühlen kann nur gelingen, wenn die Unternehmensleitung entsprechend hier Vorgaben macht und auch Vorbild ist.

ARBEIT UND GESELLSCHAFT

Gesundheitsgerechte Arbeitsverhältnisse zu schaffen, das bedeutet weitaus mehr als geringere Fehlzeiten und gesündere Beschäftigte, es geht um Lösungen für künftige Herausforderungen und die Weiterentwicklung der ganzen Gesellschaft.

Prof. Dr. Bernhard Badura
Wir haben es hier mit einem Problem zu tun, das weit über den Tellerrand der Gesundheitspolitik hinausgeht. Die Bildungsexpansion hat uns etwas sehr Wichtiges erbracht, nämlich eine Stärkung unserer Schöpferkraft, zugleich aber auch die Spaltung zwischen den Menschen, die akademischen Abschluss haben, und denen, die das nicht haben. Und dazu gehört eben auch die Spaltung zwischen denen, die ins Homeoffice dürfen und denen, die das nicht dürfen. Das ist ganz klar eine Spaltung entlang von Bildung, entlang von Branchen, auch entlang von Alter, wie wir es gelernt haben. Also diese Spaltung, die latent schon jetzt vorhanden ist, wird verstärkt, wenn wir nicht Kompensation leisten für diejenigen, die die Gelegenheit nicht haben, qua Beruf ins Home-Office zu wechseln. Und das sind eine ganze Menge Menschen, denken Sie mal an die vielen Pflegekräfte, denken Sie mal an die Leute in der Gastronomie, denken Sie an die Leue an der Kasse. Das sind alles Menschen, die nicht so unbedingt hoch bezahlt sind, vielleicht jetzt sich schon zurückgesetzt fühlen und die dann noch mal zurückgesetzt werden, weil man ihnen nicht die Chance einräumt, ins Home-Office zu wechseln, als ein Privileg. Darüber müssen wir uns weiter Gedanken machen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir enorme Anstrengungen machen, das Kind aus dem Brunnen zu holen. Aber wo wir uns eigentlich wenig darum bemühen, dazu beizutragen, dass das gar nicht so weit kommt. Und ich glaube, dass die Corona-Pandemie uns hier einen starken Weckruf liefert. Wir können nicht mehr darauf warten, einfach bis von irgendwoher der nächste Einschlag kommt, sondern wir müssen uns darauf besser vorbereiten. Das gesamte Gesundheitssystem muss sich stärker präventiv orientieren. Wir müssen uns also ernsthaft Gedanken machen, auch die Krankenkassen, wenn sie pro Jahr 16 Milliarden ausgeben, mittlerweile für Krankengeld und da ein erheblicher Teil davon, ein zunehmender Teil geht auch da drauf für chronische, für psychische Erkrankungen, dann ist das auch ein weiterer Punkt, über den man sich Gedanken machen muss.
Könnte man nicht einen Teil dieser Milliarden sinnvoller in die Prävention, Verhütung, Gesundheitsförderung, Gesundheitsmanagement investieren? Sollte man nicht den Firmen Anreize geben, dass sie mehr für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter tun, wenn sie das schon von alleine nicht können oder wollen?

Eine Analyse der aktuellen Situation und gleichzeitig ein Appell, die bereits vorhandenen Instrumente und Methoden des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Prävention optimal umzusetzen und in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt inhaltlich und strategisch weiterzuentwickeln.

Kompletter Vortrag von Prof. Dr. Bernhard Badura als Audiodatei:
„Abnehmende Präsenzkultur? – Herausforderung für Führungskräfte“

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