Gesund im Betrieb

„Gesund arbeiten“ ist mittlerweile zu einem wichtigen Ziel und Anspruch für Arbeitgebende und Arbeitnehmende in den meisten Unternehmen geworden. Als Organisationssystem wurde dafür das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) entwickelt. Dabei ist BGM kein starres System, sondern Zielsetzung, und darin enthaltene Bausteine sind auf jeweilige Unternehmenssituationen nicht nur übertragbar, sondern spiegeln auch aktuelle gesellschaftliche Veränderungen wider. Darauf beziehen wir uns nicht nur in der Auswahl unserer Beiträge dieser Ausgabe, sondern werden künftig auch kontinuierlich Videos und Informationen zu aktuellen Themen einstellen.

Gesund(es) Führen

Wie entscheidend ist Führung für die Gesundheit der Mitarbeiter? Virtuelle Führung – welche Strategien und Kompetenzen sind notwendig? Wie führt man ein Team erfolgreich durch Krisen? Dazu der Wirtschaftspsychologe und Coach Professor Jurij Ryschka.
© 2021

16:9

„Führung“ – zu diesem Thema ist das Informationsbedürfnis hoch und das nicht ohne Grund, denn es ist unumstritten: Führung ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg eines Unternehmens, bestimmt das Arbeitsklima und hat damit einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeiter. Welchen Stellenwert dieses Thema für die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie hat, das zeigt sich in zahlreichen Aktivitäten ihrer Präventionsarbeit.

Esin Taskan Karamürsel
„Wir bieten Seminare für Führungskräfte zu den Themen Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit an. Da gibt es eine ganze Menge verschiedene Seminare, da kann man sich an der einen oder anderen Stelle vielleicht etwas konkreter beraten lassen, oder auch gute Ideen mit nach Hause nehmen. Das ist die eine Sache. Zum anderen bieten wir Broschüren und Medien zu diesen Themen an. Eine dritte Ebene ist, dass wir uns natürlich auch in Netzwerken beteiligen und mit Innungen, Verbänden oder auch verschiedenen regionalen Netzwerken in Kontakt stehen.“

Einer dieser Partner ist der Wirtschaftspsychologe Professor Jurij Ryschka. Die Präventionsabteilung Gesundheit-Medizin-Psychologie der BGRCI hat gemeinsam mit ihm Informationsmaterialien erarbeitet, in denen das Thema „Führung“ besonders unter dem Aspekt der aktuellen Pandemiesituation aufbereitet wurde. „Virtuelle Führung“ und „Führung in Krisen“ diese Fragen beschäftigten Professor Ryschka auch konkret in seiner Arbeit als Coach und Berater für Führungskräfte. Häufig stehen Führungskräfte im Fokus der Kritik, wenn etwas nicht so gut läuft im Unternehmen. Was macht diese Tätigkeit so komplex und so schwierig?

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Führungskräfte haben den Auftrag, dass gewisse Ziele erreicht werden, dass Arbeitsaufgaben erledigt werden und dies gilt es zu koordinieren. Das ist Führungsaufgabe. Doch das ist nicht die einzige Führungsaufgabe. Es geht auch darum, Mitarbeiter zu binden. Es geht darum, Mitarbeitende zu entwickeln und natürlich auch für Gesundheit zu sorgen. Als Führungskraft stelle ich eine Ressource dar. Ich bin ja auch positiv unterstützend aktiv für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, indem ich Rückmeldungen gebe, bei Fragestellungen da bin, dass ich Entwicklung fördere, dafür sorge, dass das Team gut zusammenspielt und sich gegenseitig unterstützt.“

Diese unterschiedlichen, zum Teil ambivalenten Handlungsebenen erweisen sich oftmals in der Praxis als Spannungsfeld mit entsprechendem Konflikt- und damit auch Stresspotential für die Beteiligten. Wie kann die Führungskraft auf die Gesundheit ihrer Beschäftigten achten?

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Worauf kann ich als Führungskraft achten, wenn es um Gesundheit geht? Auf die Arbeitsintensität, die darf nicht zu hoch sein, die Handlungsfähigkeit, Handlungsspielraum, soziale Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen von der Führungskraft selbst, nicht zu lange Arbeitszeiten und Arbeitsplatzunsicherheit wirkt sich auch negativ auf die Gesundheit aus.“

Handlungsspielraum – ein Aspekt, der maßgeblich die Zufriedenheit und Motivation der Beschäftigten bestimmt. Zahlreiche Studien belegen: ein zu geringer Handlungsspielraum kann ein gravierender Stressfaktor sein.

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Da gibt’s schöne Forschung und Modelle, die zeigen, wenn ich eine höhere Anforderung an Mitarbeitende stelle, dann führt das zu Stress. Wenn ich gleichzeitig aber den Handlungsspielraum erweitere, dann wird das nicht als Stress erlebt, sondern als aktive Arbeit. Ich kann ganz kleinklein vorgeben, was jemand und wie er oder sie es zu tun hat, oder ich definiere ein Ziel sehr weit, stecke die Rahmenbedingungen, die Leitplanken und sage dann: „Bitte übernehmen Sie die Aufgabe und wenn Sie Fragen haben und Unterstützung brauchen, kommen Sie gerne auf mich zurück.“ Da habe ich einen sehr weiten Handlungsspielraum definiert.“

Der Wandel in der Arbeitswelt, den wir seit einiger Zeit erleben, hat natürlich auch Auswirkungen auf Führung und Führungsstil. Die Anforderungen an Führungskräfte unterliegen einem Veränderungsprozess, das Spektrum der gefragten Kompetenzen hat sich erweitert.

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Organisationen verändern sich. Die Bedürfnisse von Menschen verändern sich. Menschen wollen auch anders, nicht alle, aber viele Menschen wollen auch anders geführt werden, als man unter klassisch-hierarchischem Führungsstil versteht. Was zeichnet so einen klassischen Führungsstil aus: das sind sehr klare, eindeutige Vorgaben mit einem sehr geringen Handlungsspielraum. Unter moderner Führung würde man dann eher verstehen, dass man Ziele definiert und einen großen Handlungsspielraum zur Verfügung stellt. Und es geht ja noch einen Schritt weiter, dass Organisationen sich in selbstorganisierten Teams aufstellen und wo zum Teil gar keine Führung mehr stattfindet. Das funktioniert dann nicht immer ganz so rund, wie man sich das wünscht. Aber da ist die Idee, dass dann die Menschen gemeinsam entscheiden, welche Aufgaben zu tun sind und sie dann untereinander diese Aufgaben verteilen und dann zu einem bestmöglichen Ergebnis kommen. Hat einen positiven Effekt auf Motivation, weil die Identifikation mit der Aufgabe in der Regel sehr hoch ist.“

Eine entscheidende Voraussetzung für diese Form der Arbeitsweise ist Vertrauen und das bedeutet für die Führungskraft auch die bewusste Abgabe von Kontrolle.

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Wenn wir den Handlungsspielraum für Mitarbeitende vergrößern, dann muss ich Vertrauen darin haben, dass Mitarbeiter die Aufgabe auch gut machen. Und Mitarbeiter wollen dann auch nicht kleinklein kontrolliert werden, dass ständig jemand da ist, der ihm über die Schulter schaut und guckt, was ich denn da mache. Und das heißt, ich muss ein Stück weit loslassen als Führungskraft. Und das fällt nicht allen Führungskräften leicht, weil sie gerne auch die Kontrolle behalten wollen und den Überblick haben. Sie haben ja die Verantwortung für eine Organisationseinheit, für ein Team, für eine Abteilung, sind da in der Pflicht, auch dann Leistungen zu erbringen, dafür zu sorgen, dass diese Leistung erbracht wird. Und dann tendieren viele Führungskräfte dahin, auch sehr eng drauf zu schauen und sehr eng nachzufragen und geben dann eben nicht diesen großen Handlungsspielraum und das Vertrauen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das auch gut machen werden.“

Vertrauen versus Kontrolle – bei voller Verantwortung für die Prozesse. Wie kann dieser vielleicht auch nur scheinbare Widerspruch zufriedenstellend gelöst werden? Eine Problemstellung die häufig auch im Coaching auftritt.

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Als erstes muss es mir bewusst sein, dass ich da vielleicht ein sehr hohes Kontrollbedürfnis habe und dann kann ich bewusst daran arbeiten und reflektieren. Das findet dann in Coachings häufig statt. Zu schauen, wo kann ich denn vielleicht etwas mehr Gestaltungsmöglichkeiten geben, etwas weniger Kontrolle ausüben… Und dann ist es ja ein Übungsfeld, ein Experimentierfeld auch für sich da mal loszulassen und zu schauen, wie gut läuft es und dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder drüber zu schauen. Manchen Führungskräften ist es bewusst, dass sie ein höheres Kontrollbedürfnis haben, anderen weniger. Und manchmal bekommen sie eine Rückmeldung von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, und da können sie sich eigentlich glücklich schätzen, dass sie diesen Hinweis bekommen. Manchmal passiert das natürlich auch von der nächst höheren Führungskraft, die dann sagt: „…Ich glaube, Sie führen da sehr eng, Und ich glaube, wir müssen mit einem größeren Gestaltungsspielraum führen…“

Vertrauen und einen größeren Gestaltungsspielraum – die Pandemiesituation fordert diese Art von Führung, zum Beispiel im Homeoffice geradezu heraus. „Virtuelle Führung“, welche Aspekte sollten im Fokus der Aufmerksamkeit stehen? Besonders wenn Menschen aus der Notwendigkeit heraus gezwungen sind aus dem Homeoffice heraus zu arbeiten.

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Also wenn wir über Homeoffice sprechen, dann spielt hier eine große Rolle, wie jeder einzelne sich organisiert und dass man da eine Abstimmung hat, ein gemeinsames Verständnis, dass man weiß, dass es Kernzeiten gibt, wo alle anwesend sind. Wenn man dann doch die Mittagspause beispielsweise nutzt, um Sport zu machen, dass man sich dann an- und abmeldet, dass da eine Klarheit ist: Ich kann jederzeit meine Kollegin anrufen, aber wenn sie sich abgemeldet hat, dann ist sie im Moment für diese die Zeit nicht verfügbar. Also, wie findet Kommunikation dann auch zwischen den einzelnen Teammitgliedern in diesen Homeoffice Zeiten statt. Und unter virtuellen Bedingungen, oder in der Homeoffice-Situation fallen gewisse Ressourcen weg. Also gerade diese wechselseitige Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen untereinander ist nicht in dem Maße gegeben, wie wir es in einer Bürosituation haben. Und darauf muss ich besonders achten, dass ich die herstelle. Feedback und Wertschätzung passiert ja häufig auch in Situationen, wie beispielsweise, jemand übergibt mir ein Arbeitsergebnis und dann sage ich: „Dankeschön, Mensch, ich hab auch das andere gelesen, hast du gut gemacht.“ Und solche Situationen fallen weg, weil dann vieles einfach nur über E-Mail kommuniziert wird und dieser Austausch gar nicht da ist und damit auch die Chance, diese Wertschätzung zu äußern. Das heißt, ich muss mir bewusst vornehmen, bewusst darauf achten und dann gezielt darauf schauen, als Führungskraft. Unter Homeoffice-Bedingungen ist es wichtig, dass ich als Führungskraft noch sensitiver bin, genauer hinschaue; gibt es Störungen, gibt es Konflikte? Oder wenn ich einen Hauch von einen Eindruck habe, dann genauer nachfrage, die Menschen anspreche, gibt es Unzufriedenheit, oder sind sogar Konflikte vorhanden. Weil, die bekomme ich nicht in dem Maße mit, wie ich sie in Büroräumlichkeiten mitbekomme. Ein geschätzter Kollege sagt immer: „Was ist der Unterschied zwischen virtueller Führung und Führung von Angesicht zu Angesicht: Schlechte Führung zeigt sich unter virtuellen Bedingungen schneller.“

Noch deutlicher als unter virtuellen Bedingungen zeigt sich die Qualität von Führung und die Kompetenz von Führungskräften in Krisen. Eine Situation die für die Beteiligten Stress bedeutet und von allen viel abfordert.

Prof. Dr. Jurij Ryschka
„Zusammengefasst zum Thema Krisenbewältigung geht es darum, mit dieser, mit diesem Stressor, mit Stresssituationen umzugehen und dabei für sich und für Mitarbeitende Unterstützung zu geben. Ich muss meine Organisation oder Organisationseinheit, mein Team auf diese Krisensituation ausrichten. Das heißt, ich muss Orientierung geben, muss sagen, wo es jetzt langgeht und gemeinsam schauen; Was brauchen wir dafür, um da handlungsfähig zu sein. Das ist die eine Dimension, was die Arbeit angeht, das andere wäre der Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das ich da empathisch auf die Menschen zugehe und die Sorgen und Ängste und Befürchtungen ernst nehme und darüber auch ins Gespräch komme. Vielleicht kann ich an der einen oder anderen Stelle auch für Entlastung sorgen. Ich glaube, es braucht in der Krise eine schnelle Anpassungsfähigkeit für Führungskräfte. Also das ich schnell akzeptiere, die Situation ist eine andere, und mich dann darauf einstelle. Aber nur wenn ich die Situation akzeptiere, kann ich mich dann auch darauf einstellen und neue Ideen entwickeln, wie man mit dieser Situation umgehen kann.“

Mehr Coach und weniger Führungskraft. Aktuell zeigt die Pandemiesituation wie in einem Brennglas, dass Eigenschaften und Kompetenzen, die früher nicht so sehr im Fokus standen, bedeutsamer geworden sind: ein emphatischer Führungsstil ist gefragt und das nicht nur in Krisenzeiten. Doch auch wer andere unterstützen soll, braucht Unterstützung, um Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Handlungsanleitungen, Tipps und Informationen dazu in unseren zum Thema entwickelten Arbeitsblättern, wie: „Führung in Krisen“, „Virtuelle Führung“ und „Homeoffice“. Weitere Informationen dazu in der Infobox der aktuellen Ausgabe von „Fit für Job und Leben“.